Mittwoch, 24. Juni 2015

Fussballlichstspiele St. Gallen - ein Besuch

Ein ganz feiner Auftritt. Migration, Hooligans und Messi unter einem Hut. Sehr viel Licht bei den Lichtspielen. Bitte mehr davon!

Ich fragte mich, weshalb diese Dame da war. Sie war etwa 50 Jahre alt und trug eine weisse, glatt gebügelte Bluse, dessen Ärmel fein säuberlich nach oben bis hin zu den Ellenbogen gefaltet waren. Umso grösser gestaltete sich dafür die Präsentationsfläche der goldenen Uhr, die ihr schmales Handgelenk umfasste. Ich bin mir zudem sicher, dass sie mehrere teure Ringe trug. Und eine Tasche. Ich glaube, sie war von Louis Vuitton. Aber was heisst das schon, ich glaube? Womöglich hat mich auch einfach das gesellschaftlich weitverbreitete Verlangen, Gedanken in Stereotypen zu pressen, heimgesucht. Das macht sie greifbarer. Und die Handtasche im Nachhinein vielleicht bedeutend billiger.

Dennoch, dass sie sich zuerst den Dokumentarfilm Offside Istanbul ansah und anschliessend der Diskussionsrunde beiwohnte, überraschte mich. „15 Minuten will ich schon reinhören.“ , flüsterte sie ihrem Mann beinahe flehend zu, nachdem der Film fertig war und die Podiumsdiskussion angekündigt wurde. Sie blieb dann noch eine Stunde. Bis das Gespräch endete.

Das gebannte Lauschen der aufgebrezelten Frau mag aufgrund ihrer optischen Erscheinung überrascht haben. Allerdings boten die Protagonisten auf der Bühne einen derart spannenden Austausch, dass der Verbleib der Dame nur allzu berechtigt war.

Beim Film Offside Istanbul werden afrikanische Flüchtlinge porträtiert, die in Istanbul auf die grosse Fussballkarriere hoffen. Regisseur Jonas Schaffter unternimmt im Film schon gar nicht erst den Versuch, die aussichtslose Situation der Afrikaner zu erklären. Vielmehr überlässt er dem Zuschauer die Interpretation der dortigen Zustände, indem er einzig die Spieler sprechen lässt und sie bildlich begleitet. Es resultiert ein ehrliches und unverfälschtes Bild. Manchmal überkommt mich das Verlangen, etwas zu sagen, Ratschläge zu geben. Denn eines zeichnet sie alle aus: Naivität. Oftmals sind es selbsternannte Berater, die vermeintliche Talente mit der Aussicht auf eine Karriere als Profifussballer ködern. Für die Reise nach Istanbul müssen die grundsätzlich armen Spieler aber selbst aufkommen. Es ist eine Naivität, die purer Unwissenheit geschuldet ist. Fehlende Bildung, gepaart mit dem Druck, ein ganzes Dorf versorgen zu müssen, sind Gründe dafür. Die afrikanischen Fussballer eint aber auch eine andere Eigenschaft: Lebensfreude. Vielleicht gerade weil der typische Erzähler fehlt, lässt der Film die Geschichte nah an den Zuschauer heran. Die Bezeichnung Dokumentarfilm scheint deshalb nicht ganz treffend zu sein. Der Film erklärt sich nicht dem Zuschauer. Er lässt ihn erleben.

Nach einer kurzen Pause trifft man sich wieder im Saal des Kino Tiffany an der Linsebühlstrasse. Der Saal ist Schauplatz von insgesamt vier Filmen. Und der Saal ist – leider – viel zu gross. Die Bestuhlung reicht für 250 Leute. An diesem warmen Samstagnachmittag finden sich nur deren 30 im Tiffany ein. Ihr Kommen dürften aber die wenigsten bereut haben.

Regisseur Jonas Schaffter ist persönlich vor Ort und diskutiert zusammen mit dem ehemaligen Profifussballer Sawwas Exouzidis und Migrationsexperte Martin Müller über die vergangene Stunde. Buchautor und Journalist Kaspar Surber stellt Fragen, leitet die Runde. Eine Runde, die jedoch bald keine Leitung mehr benötigt. Schaffter erklärt, dass er den Film während eines einjährigen Aufenthaltes in Istanbul drehte. Besonders schön ist es, als er von einer „unausgesprochenen Übereinkunft“ erzählt. Er bekommt sein Bildmaterial und die Afrikaner ihre Werbung. Noch heute hat er mit einigen Spielern wöchentlichen Kontakt. Es sind Freundschaften entstanden. Die Sachlichkeit Müllers und die Emotionalität Exouzidis’ scheinen sich beim Basler Regisseur und Student zu vereinen. Sowohl bei Müllers intelligenten Inputs als auch bei Exouzidis’ Griff ins Nähkästchen nickt der junge Schaffter beherzt. Die drei Gäste sind geschickt gewählt worden. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen, haben aber beträchtliche Berührungspunkte mit der Migration.

Die unterschiedliche Herkunft generiert einen willkommenen Spielraum der gegenseitigen Unwissenheit, weshalb Müller beispielsweise den Deutsch-Griechen Exouzidis fragt, wie es sich mit dem Mindestlohn im Fussball verhält. Im Verlaufe des Gesprächs wird man das Gefühl nicht los, dass die vier Leute auf der Bühne auch ohne Publikum angeregt diskutieren würden. Vor allem Exouzidis sticht heraus, weil er immer wieder die Initiative ergreift. Dass seine Erzählungen gelegentlich am Thema vorbeizielen, sei ihm verziehen. Zu interessant sind seine Ausführungen. Fehlende Aufenthaltsbewilligungen von Teamkollegen oder mafiaähnliche Zustände in griechischen Vereinen – allerlei Spannendes ist dabei. Exouzidis könnte vermutlich problemlos Fernsehen machen. Den dafür nötigen Charme hat er. Zudem dürfte er mit Hipster-Bart und Skinny Jeans auch mainstreamtauglich sein. Nur für den Fall, dass das Schweizer Fernsehen hier mitliest.

Danach ist mein Besuch an der ersten, hoffentlich aber nicht letzten Ausgabe der St. Galler Fussballlichtspiele vorbei. Den letzten Film, Looking for Eric, habe ich mir als United-Fan und Cantona-Bewunderer schon längt angesehen, weshalb ich um knapp neun Uhr den Heimweg antrete. Ich falte meine Hemdärmel fein säuberlich nach oben bis hin zu den Ellenbogen und lasse die Eindrücke des kleinen Festivals Revue passieren.

Den Anfang machte der Spielfilm Cass am Freitagabend. Er thematisiert die Lebensgeschichte von Cass Pennant im Rahmen eines Spielfilms. Cass ist Jamaikaner, wuchs aber in London bei  seinen Adoptiveltern auf. In Kindesjahren mit Rassismus konfrontiert, fand er erst als Mitglied der berüchtigten Inter City Firm endlich Anerkennung. Später wird er Anführer der Gruppe und muss ins Gefängnis, ehe er eine Frau kennenglernt und diese heiratet. Jahre danach hat Cass der Inter City Firm den Rücken gekehrt und arbeitet als Türsteher, wo ihn die Vergangenheit einholt. Er wird von einem Arsenal-Fan angeschossen, überlebt aber.

Cass neigt zu Kitsch, schaut sich aber angenehm, wenn der Verstand für zwei Stunden keine kritischen Nachfragen stellt. Überraschend ist, dass der Film erst 2008 erschien. Somit nach dem ersten Hooligans-Teil, der ebenfalls die Inter City Firm behandelt. Überraschend ist diese Tatsache insofern, weil Cass szenisch weitaus authentischer wirkt. In der filmischen Umsetzung erinnert Cass an die frühen Neunziger, ist also näher an den Achtzigerjahren, in welchen der Streifen tatsächlich spielt. Dementsprechend hält eine gewisse Sehnsucht Einzug, die bei Hooligans fehlt. Sie äussert sich in der Mode der Schauspieler oder den verlassenen Backsteingässchen, die mit Neunziger-Film-Flair eher zum Tragen kommen. Hinzu kommt, dass der Film zwar über deutschen Untertitel verfügt, allerdings in englischer Sprache lief. Cockney hört sich einfach nach Insel an. Nach Grounds. Nach dem Mutterland des Fussballs. Mit Schrecken erinnert sich das informationsgeladene Journalistenhirn an den Umzug West Hams ins Olympiastadion. Der Upton Park wird ab 2016 Geschichte sein.

Tag zwei bot neben den angesprochenen Looking for Eric und Offside Istanbul zwei Blocks Kurzfilme sowie den Dokumentarfilm The Other Chelsea. Die beiden Blocks Kurzfilme à 60 Minuten waren gerade noch kompakt genug, um sich jedes Mal wieder auf eine neue, kleine Geschichte einzulassen. Man wechselte munter zwischen verschiedenen Genres und Geschichten. Zuerst Zeichentrickfilm, dann ein homosexueller Hooligan inmitten von homophoben Hooligans und anschliessend eine witziges Filmchen über einen Greis, der fast verzweifelte, weil er jedes Messi-Tor verpasste.

The Other Chelsea hörte sich vielversprechend an. Der Begriff Chelsea schien die Lust auf die grosse, weite Fussballwelt zu stillen. Die Filmbeschreibung gab preis, dass sich der Film um Shaktar Donetsk dreht. Das Verlangen nach politischem Wissen würde also auch gestillt werden, ist der Konflikt in der Ostukraine doch brandaktuell. Schlussendlich wurde es mehr Ukraine, denn Chelsea. Schlimm ist es nicht. Dafür hat Regisseur Jakob Preuss den Dokumentarfilm zu clever strukturiert. Die Schauplätze wechseln sich ab. Der Film bleibt aber übersichtlich, weil es nur deren drei sind. Es ermöglicht dem Zuschauer eine Beziehung zu den Personen im Film aufzubauen. Zum einen Kolja Lewtschenko, Jungpolitiker und Unternehmer. Weil er stets versucht, den schmalen Grat zwischen Seriosität und Offenheit zu finden, wirkt er irgendwie undurchsichtig. Man würde ihm gerne länger zuhören. Einfach, um sich ein klareres Bild von ihm zu machen. Zum anderen die Anhänger von Shaktar. Neben ihrem Bezug zum Fussballverein, berichten sie von ihrem Leben. Dort ist das örtliche Kohlewerk ein zentraler Punkt. Spätestens hier merkt man, dass die Ostukraine nicht um die Ecke liegt. Dritter Schauplatz ist der Verein selbst. Er wird zur Zeit, als der Film gedreht wird, UEFA-Cup-Sieger. Es wird wieder vertrauter. Weil der Fussball im Mittelpunkt steht.

Denn: „Fussball ist mehr als elf gegen elf. Fussball ist mehr als 90 Minuten sportlicher Wettkampf. Die beiläufigen Schönheiten, die der Fussball tagtäglich produziert, gehen in der medialen Dauerversorgung oft unter.“, wie es die St. Galler Fussballlichtspiele auf ihrer Homepage treffend formuliert haben. Als Ziel haben sie sich gesetzt, die „facettenreiche Welt des Fussballs näher zu bringen“. Das ist gelungen. Schade ist, dass nur 30 Leute ins Tiffany pilgerten. Wer als Zuschauer dabei war, würde gerne die Hemdärmel nach oben bis hin zu den Ellenbogen falten, um mitzuhelfen, dass es beim nächsten Mal mehr sind. Schöne Momente sollen doch geteilt werden.

Aus einer „Bieridee“, wie Gründer Ruben Schönenberger erzählte, ist ein launiges Festivalchen geworden. Festwirtschaft, Bier, Fussball, Gesprächsstoff und ein gelungener Auftritt. Es fehlen nur noch: mehr Leute. Bitte mehr davon!


Köpfe hochkrempeln. Und die Ärmel natürlich auch. Bis zum nächsten Mal.

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