Dienstag, 7. April 2015

Hüpf, hüpf, hurra!

103 besuchte Spiele im vergangenen Jahr. Dafür mehr als 30'000 Kilometer gereist, 9'000 davon alleine mit dem Zug. Ulm, Aalen, Willington, Sochaux, Helsingborg oder Pilsen waren unter anderem Destinationen. Das ist wahnsinnig. Wahnsinnig geil. Fussballspiele als Sucht. Über Groundhopping.

Zugegeben: Viel war nicht nötig, um mich zu überzeugen. Wer mit einem Pullover von West Ham United aufkreuzt, der hat meine Aufmerksamkeit. Wer Fussball in 15 verschiedenen Ländern gesehen hat, der hat meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.

Vielleicht war die nur spärliche Beleuchtung in der Brasserie genau richtig, um diesen Geschichten zu lauschen. Wer von der Londoner Craven Cottage schwärmt, über verlassene Bahnhöfe in Tschechien spricht und sich durchaus differenziert über die Kommerzialisierung im Fussball äussert, bei dem ist – zumindest fussballtechnisch – eine rebellische Ader auszumachen. Und Rebellen umgeben grundsätzlich einen geheimnisvollen, bisweilen auch gefährlichen Schleier.

Im Nachhinein war ich auch froh, dass Beamer und Leinwand beinahe provokativ pünktlich zum Anpfiff von Gladbachs Auswärtsspiel in Sevilla verschwand. Vermutlich hätte ich bei jeglichem Ansatz erregten Tonfalles des Kommentators, mein Blick zum Spiel gerichtet. Ich hätte mich geärgert. Denn was Groundhopper Andrin erzählte, war echt. Ein Urteil, das man bei weitem nicht jedem Fussball-Interview attestieren kann. Je höher die Spielklasse, je höher die Summen, desto mehr wird an der „Wahrheit“ geschraubt. Bloss nichts sagen, was Mitspieler, Sponsoren oder den Verein in irgendeiner Form nicht passen könnte. Notfalls schreitet der Pressechef ein, korrigiert, dementiert. Ciro Immobiles Aussagen, die Deutschen seien kalt, kommt da schon Fussball-seelischem Balsam gleich. Ein kleiner Blick hinter die Kulissen. Ein kleiner Blick in den Menschen hinein. Halt echt. Andrin kann da mithalten. Wer Fussball in 15 verschiedenen Länder gesehen hat, der kann sich eine unverfälschte Meinung bilden.

Er reist an Spiele in Europa und schreibt darüber. Frei von manipulierten Stimmungsbildern in Fernsehen oder Zeitung. „Andrin unterwegs“ lautet die Plattform, auf welchen er seine Erfahrungen teilt. Dazu erscheint alle sechs Monate ein Heft. Dabei ist er sich aber bewusst, dass er höchstens eine kleine Randgruppe anspricht: „Ich mache das  nicht, um möglichst viele Leser zu haben, sondern will einfach meine Erlebnisse mit Leuten teilen, die ähnlich angefressen sind.“ Viel Aufwand für vergleichsweise wenig Ertrag. Neben seiner Arbeit, die Andrin als Praktikant bei einer Westschweizer Versicherung verrichtet, bleibt nicht viel Zeit. Noch weniger, um ganze Texte über seine Reisen zu verfassen. Dennoch nimmt er sie sich. Dass er wenig schläft und keine Freundin hat, überrascht folglich nicht. Viel Aufwand und vergleichsweise wenig Ertrag auch hinsichtlich der finanziellen Komponente. Ausschweifende Nächte im St. Galler Nachtleben sind eher Mangelware. Vielmehr sitzt Andrin an einem Sonntag lieber im Zug, Bus oder Flugzeug. Meistens ohne Kater und der jeweils obligaten Frage, wo man denn die 100er-Note ausgab, die man morgens um drei noch am Automaten rausgelassen hat.

Andrin überlegt, was er über die Reise ins Emirates Stadium zu erzählen weiss. Er hält einen Moment inne. Währenddessen scheint er sich selbst bewusst zu werden, dass ihn die fehlende Anekdote nur bestätigt. Fussball ist seiner Meinung nach vielerorts zum reinen Entertainment-Anlass verkommen. Ich pflichte ihm bei. Mittlerweile ist es kein Interview mehr. Vielmehr ist es ein launiges Gespräch, in dem zwei Fussball-Romantiker über den heutigen Fussball und dessen Begleiterscheinungen sinnieren. Inhaltlich, so würde man als Beobachter sicherlich festhalten, sind wir 40. Mindestens. In breites Fachwissen mischt sich aber immer wieder auch blinde Sehnsucht, wie es bei Fussball-Romantiker eben üblich ist. Jederzeit würde man purer Abstiegskampf bei Crystal Palace einem Champions-League-Halbfinale in der Allianz Arena vorziehen. Optisch haben wir gerade erst die Teenager-Phase hinter uns gelassen. Glatt rasiert, sofern dies überhaupt nötig ist.

Wir kommen wieder auf die Kommerzialisierung im Fussball zurück. Gänzlich abwegig sei diese Entwicklung nicht, Sorgen bereite aber die Dosierung. Es seien vor allem die Spitzenvereine, welche ihren „Fans“ beim Gang ins Stadion übermässiges Entertainment liefern würden. „Ob ich nun ein Spiel in der Allianz Arena oder im Emirates Stadium sehe, macht keinen grossen Unterschied.“, urteilt Andrin.

Die Besuche ähneln sich. Obwohl der fremde Nachbar nur wenige Zentimeter entfernt sitzt, trennt ihn meist viel mehr. Oft sind es mehrere Taschen des Megastores. Auch Missgunst lassen die wenigen Zentimeter in einen gefühlten Meter anwachsen. Stösst man sich mit dem Ellbogen mal an, erntet man umgehend kritische Blicke. Ein Tor an der Ipswicher Portman Road mit wildfremden Menschen zu bejubeln, kommt da schon eher dem Begriff Erlebnis nah. Und anders als beim Entertainment setzt das Erlebnis einen gewissen Grad an Eigeninitiative voraus. Wobei aber weniger das Aufsuchen des vereinseigenen Shops gemeint ist, sondern mehr das aktive Mitgestalten einer positiven Stimmung. Nicht nur bei sich selbst. Andrin erzählt von einmaligen Gesprächen. Schauplatz war aber nicht etwa das Emirates Stadium oder die Münchner Allianz Arena, sondern die beschaulicheren Spielstätten. Er erzählt von spannenden Begegnungen in Tschechien und dem Schweizer Regional-Fussball.

Es macht Sinn. Der ständige Blick auf den Platz oder die Videowand verunmöglichen durchaus teilweise den Tiefgang. Natürlich begutachtet aber auch Andrin das Treiben auf dem Platz, auch wenn er nicht nur des Spiels wegen anreist: „Für mich ist das Spiel die Belohnung für die Planung und die Reise.“, erklärt der Kanti-Absolvent. Dennoch ist sein Fachwissen beachtlich: „In England und Deutschland kenne ich eigentlich jeden Spieler der obersten Spielklasse.“ Sekunden später benennt er Leighton Baines als seinen Lieblingsspieler. Weitere Fragen zu seinem Fachwissen erübrigen sich.

Die Frage nach dem Antrieb beschäftigt mich. Zwar habe ich mich auch schon mehrmals am frühen Sonntagnachmittag durch die 2. Bundesliga gekämpft, dies aber im wohligen Wissen jederzeit umschalten zu können. Andrin hat diese Option nicht. Im Gegenteil. Erste Zweifel werden ihm wohl schon beim Klingeln des Weckers morgens um vier Uhr kommen. In Aussicht eine Partie der Spielvereinigung Unterhaching. Nichts mit ausschlafen. Innerlich bin ich kurz gespalten, entschliesse mich aber noch nicht ungläubig den Kopf zu schütteln. Ich will die Antwort abwarten. Und diese ist so simpel, wie richtig: Fussball. Andrin gibt zu: „Ich habe mich auch schon oft gefragt, weshalb ich das alles mache.“ Gelegenheiten um in Muster von Selbstzweifel zu verfallen, gab und gibt es ja genug. „Natürlich zweifelst du, wenn du nach einer Nullnummer um zehn Uhr am Stuttgarter Bahnhof stehst und weisst, dass du erst in fünf Stunden zu Hause bist.“ Aber eben, es ist Fussball. Es gibt diese enttäuschenden Spiele, nach denen man sich fragt, wieso man dafür Zeit und Geld geopfert hat. Nach denen man mit seinen Eltern hadert, wieso sie dich bloss zum Fussball schickten. Aber es gibt auch andere Spiele. Diese wunderbar mitreissenden Partien. Last-Minute-Treffer, ein Sieg von David gegen Goliath, Traumtore oder einfach ein Sieg deines favorisierten Vereins. Bei Andrin kommt zudem hinzu, dass der Erfolg einer Reise nicht nur von den 90 Minuten abhängig ist. „Ein Ausflug beginnt schon mit der Planung“, so Andrin. Dabei ist ein gelungener Abschluss einer Planung, die Vorfreude, die Reise selbst, sowie das Erlebnis vor Ort genauso ein wichtiger Faktor, wie das Spiel selbst.

Mich überrascht, wie gut der in im Moment in Lausanne wohnhafte Andrin alleine zurechtkommt. Auch wenn er viel mit Freunden reist, ist er dennoch häufig alleine unterwegs. Dabei sind die Ziele nicht etwa Gossau oder Wil, sondern auch international gewählt. Und wie soll man so die schönen Momente teilen können? Für Andrin ist das kein Problem. Selbst am Arbeitsplatz weiss niemand von seiner Passion. Andrin kann auch stiller, alleiniger Geniesser sein. Er ist Einzelkind. Womöglich gründet diese Eigenschaft auf diesem Umstand. Nun gut, dann teilte sein Vater die Fussballbegeisterung mit ihm, denke ich mir. Dann komme ich auf seine Anfänge im Groundhopping zu sprechen. In diesen spielen seine Eltern keine Rolle. Andrin geht durch einen Freund erst zu den Heimspielen des FC St. Gallen. Später unterstützt er die Espen auch auswärts. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass es eigentlich immer dasselbe ist.”, stellt Andrin fest. Von da an besucht er auch international Spiele. Dabei ist ihm das Wort Groundhopping noch kein Begriff. Erst als er schon exzessiv umherreist, wird er damit konfrontiert. „Ich wollte wissen, ob es auch andere gibt, die sowas machen, dann bin ich auf dieses Wort gestossen.“ Irgendwie passt das zum umtriebigen, neugierigen Andrin. Er ist losgezogen, um zu entdecken. Ohne irgendwelche verfälschten Bilder.


Wer sich von Andrins Eindrücken ein Bild machen will, der findet unter „andrinunterwegs.ch“ alles über seine Reisen. In anderer Funktion werden wir ihn wohl nicht zu sehen bekommen. „Fotograf bei Fussballspielen? Sportjournalist? Reiseführer?“, frage ich ihn. Seine Zukunft sieht er woanders, nämlich am ehesten noch irgendwann an der Seitenlinie. Zum Beispiel gerne beim abstiegsbedrohten Viertligisten Tranmere Rovers. Etwas Echtes halt. Zuerst aber zieht er los. Cham, Wolverhampton, Lyon, Barcelona oder Kaiserslautern sind nur einige, der geplanten nächsten Spiele.

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