Dienstag, 24. September 2013

Der Mythos Ajax - auf den Spuren des "Voetbal total"

Jack Reynolds wurde gestern vor 132 Jahren in Manchester geboren. "Na und?", fragt man sich da zurecht. Naja, dieser Jack Reynolds hat nicht weniger als den Fussball entscheidend geprägt. Heutzutage schaut man ein Fussballspiel und wird mit Begriffen wie "Pressing" oder "Positionswechsel" beworfen und von sogenannten "Experten" stundenlang mit kleinkindlichem Staunen über Pep Guardiolas Genialität, samt dessen so innovativem Spielsystem zugetextet. Wir sagen: Pustekuchen! Der wahre Pep wurde gestern vor 132 Jahren in Manchester geboren und heisst: Jack Reynolds. Eine Geschichte über den Mythos Ajax, der erklärt, warum wir heute vom "modernen Fussball" reden. 


Als andere Länder noch nicht einmal wussten, was Fussball ist, wurden im Mutterland des Fussballs, in England, bereits die ersten Ernstkämpfe bestritten. In dieser Zeit erblickte ein gewisser Jack Reynolds das Licht der Welt. Damals konnte noch niemand ahnen, dass Reynolds den Fussball bis in die heutige Zeit prägen würde. In Manchester geboren, schloss er sich anfangs des neuen Jahrhunderts den Citiziens an. Es folgten sechs weitere Stationen, in welcher die Saison 1904/1905 den Karrierehöhepunkt darstellte. Denn: Mit dem Team von Grimsby Town spielte Reynolds in der zweithöchsten englischen Spielklasse. Reynolds wurde also nicht mit übermässigen Fähigkeiten Fussball zu spielen gesegnet. Nach seiner aktiven Karriere fand sich der Engländer in der Schweiz wieder, wo er - man höre und staune - den FC St. Gallen als Trainer betreute. Er merkte schnell, dass er auf der Trainerbank um einiges talentierter war, als auf dem Platz. Die Debütsaison bei den Espen schloss er auf dem starken dritten Platz ab. 1913 und 1914 musste man sich nur noch vom FC Aarau geschlagen geben. Die Erfolge in der Ostschweiz blieben auch dem deutschen Fussballverband nicht verborgen, der den jungen Trainer als Nationaltrainer verpflichten wollte. Das Engagement zerschlug sich aber aufgrund des Ersten Weltkriegs. Also kam Reynolds beim Nachbar Holland unter, wo er die Mannschaft von Ajax Amsterdam übernahm. Die Hauptstädter, benannt nach dem tapferen, der Sage nach aber auch verrückten griechischen Gott "Ajax", profitierten rasch vom Einfluss des Engländers. Mit einigen Unterbrüchen avancierte Ajax zum Serienmeister in höchsten Spielklasse Hollands. Der Erfolg kam nicht von ungefähr. Als einer der ersten Trainer überhaupt professionalisierte Reynolds das Training. Der Engländer setzte auf stundenlanges Lauftraining und legte grossen Wert auf gepflegtes Passspiel. Die Spieler von Ajax galten somit dazumals als sehr ballsicher und taktisch weit voraus. Attribute, die zu jener Zeit durchaus eine Rarität waren. Bis 1947 wurden die Ajaciedens von Reynolds betreut.

1947 gewannen Ajax auch die achte Meisterschaft. Vor allem Rinus Michels wusste aus der damaligen Meistermannschaft zu überzeugen. In rund 264 Spielen trug er das weisse Trikot mit dem grossen roten Balken, in welchen er 122 Tore erzielte - eine beachtliche Anzahl. Noch beachtlicher präsentierte sich Michels zweite Karriere bei Hollands Rekordmeister - als Trainer. Inspiriert von Reynolds Liebe zu Disziplin und kontrolliertem Passspiel formte Michels eine Mannschaft, die nur wenige Jahre später zur besten Europas reifen würde. Michels hatte aber auch das Glück über das richtige Spielermaterial für seine Art Fussball zu verfügen. Nur ein knappes Jahr vor Michels Amtsantritt bei den Ajaciedens lief ein gewisser Johannes Cruyff im Alter von zarten 17 Jahren das erste Mal für Ajax auf. Das Spiel gegen Groningen ging zwar verloren, eine grosse Karriere fand dennoch an diesem Herbsttag seinen Anfang. Cruyff wurde zum festen Bestandteil der Idee Michels. Der "General" setzte auf das weltweit noch völlig unbekannte Wechseln der Positionen. Wer sich nur schon Ausschnitte von Spielen aus den 60er-, 70er- oder 80er-Jahre ansieht, wird feststellen, dass dort meist Standfussball praktiziert wurde. Es bewegte sich lediglich der Ball führende Spieler. Rinus Michels aber kombinierte das in Amsterdam so ausgereifte Kurzpassspiel mit den für den Gegner überraschenden Positionswechseln. In einem 4-3-3, wo Europas Fussballer des Jahres 1971, 1973 und 1974 Johann Cruyff meist über die linke Aussenbahn zum Zug kam, durften beispielsweise die Aussenverteidiger sich an der Offensive beteiligen, sofern die Flügelspieler für diese Momente die Abwehrarbeiten übernahmen. 

Erstmals wurde vom "Voetbal total" gesprochen, dem "totalen Fussball", die eigentliche Grundlage des heutigen Spiels. Bei gegnerischem Ballbesitz die Räume eng machen und bei eigenem Ballbesitz das Spiel in die Breite ziehen, um Platz zu schaffen. Deutschlands Fussball-Lichtgestalt Franz Beckenbauer sagte einst über die damaligen Spielsysteme: "Früher konnte man noch 50, 60 Meter mit dem Ball laufen, ohne angegriffen zu werden, da man mit Manndeckung verteidigte." Heute, so Beckenbauer, sei das anders. Die Räume werden vom Gegner eng gemacht. Eine Idee des Voetbal total.

Michels Arbeit trug spätestens 1971 Früchte, als man sich im Wettbewerb des Europapokal der Landesmeister (die heutige Champions League) durchsetzte. Ajax Amsterdam - das bedeutete anfangs der 70er eine Menge Spektakel. Fussball-Ästhetiker und Catenaccio-Verabscheuer trugen damals die Trikots von Cruyff, Neeskens oder Haan. Man liess zwei weitere Siege im Landesmeister-Cup folgen (73/74) fiel dann aber nach und nach zusammen. Michels und Cruyff etwa, wechselten nach Katalonien zum FC Barcelona. Michels und Cruyff waren es aber auch, die die nierderländische Nationalmannschaft ins WM-Finale 1974 führten. An der Seitenlinie impfte Michels seiner Mannschaft um Star Johann Cruyff das Voetbal total ein, welches schlussendlich nur vom Lokalmatador selbst gestoppt werden konnte (1:2-Nierderlage gegen Deutschland). 

Cruyff war der nächste im Bunde, der Reynolds Vorstellungen des Fussballs verfeinerte und weitergab. Von 1988 bis 1996 trainierte Europas Fussballer des Jahrhunderts seine Liebe, den FC Barcelona. Es Bedarf keiner weiteren Erklärungen wenn man hinzufügt, dass damals ein gewisser Pep Guardiola unter Johann Cruyff trainierte...

Währenddessen wuchs in Amsterdam eine Mannschaft zusammen, die es locker mit den Helden der 70er-Jahre hätte aufnehmen können. Namen wie Edwin van der Saar, Jaap Stam, Edgar Davids, Marc Overmars, Frank und Ronald de Boer, Clarence Seedorf oder Patrick Kluivert dürfte dem Einen oder Anderen sehr wohl bekannt sein. Sie alle wurden in Ajax' Fussballschule "De Toekomost" ("die Zukunft") ausgebildet. Da man mit den finanzstarken Vereine in Europa nicht mithalten konnte, machte man in Amsterdam aus der Not eine Tugend und schuf die weltbekannte Fussballschule. Bei den Jüngsten wird bereits das ominöse 4-3-3 gepredigt. Man spricht von 40 Bewertungskritierien, die halbjährlich neu beurteilt werden. Wer durchfällt, ist weg vom Fenster und wird prompt durch neues Spielermaterial ersetzt. 1995 bezwang Ajax unter der Leitung Louis van Gaals Favorit Juventus Turin im Finale der Champions League mit 1:0. Neun Spieler aus der Startelf stammten aus De Toekomst. Mittlerweile besitzt Ajax weitere Schulen in Südafrika oder China. Louis van Gaal zog derweil weiter zum - oh Wunder - FC Barcelona. Spieler unter ihm: Pep Guardiola. Co-Trainer: Ein gewisser Jose Mourinho...

Heute ist es ruhiger geworden, um die Erben Reynolds. Cruyff trainiert die nicht anerkannte Nationalmannschaft Kataloniens. Dennoch, sein Wort hat Gewicht. Meldet sich Cruyff, dessen legendäre Trikotnummer 14 bei Ajax nicht mehr vergeben wird, so hören die Verantwortlichen - sei es in Barcelona oder in Amsterdam. Ajax selbst spielt heute in der Amsterdam-ArenA. Knapp 52000 Zuschauer passen in das Schmuckstück rein. 6 McDonals, 60 Kioske und Kinos zeigen die Dimensionen dieses Fussballstadions auf. An die Erfolge von damals vermag man aber bisher noch nicht anzuknüpfen. 2004 bis 2011 blieb man ohne Titel in der heimischen Eredivisie. Die letzten drei Jahre durfte man aber Titel 30, 31 und 32 feiern - womit Ajax unbestrittener Rekordmeister Hollands ist. Auf die grossen Erfolge wartet man aber international. Wenn überhaupt qualifiziert man sich mit Ach und Krach für Europas Königsklasse, der Champions Leauge, wo dann eigentlich ausnahmslos Endstation die Gruppenphase ist. Jedoch hat sich die Spur Reynolds' bis heute nicht verloren. Dass van Gaal 2010 mit dem FC Bayern im Champions League auf Inter Mailand, trainiert von Jose Mourinho, traf, ist beinahe die logische Folge. Der FC Bayern stand seit diesem verlorenem Finale weitere zwei Mal in Endspiel um Europas Krone im Vereinsfussball. Böse Zungen meinen, van Gaals Einfluss sei noch immer ersichtlich. Noch bösere Zungen meinen, Jack Reynolds' Einfluss sei noch immer ersichtlich. Ein Einfluss, der gestern vor 132 Jahren seinen Anfang fand.

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